Schlagwort-Archive: 15%-Regel

Nahrungsergänzungsmittel: Keine Mindestmengen für Zutaten

Die Anwendung der NemV in der Praxis deutscher Behörden und den diese „beratenden“ Untersuchungsämtern trifft zuweilen auf schwere juristische Bedenken. Zum Teil werden bereits die grundlegenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsanwendung missachtet oder sind unbekannt. Ein solcher Fall, der die Auslegung des Nahrungsergänzungsmittelbegriffs betrifft, gibt nun Anlass zur Auseinandersetzung mit der Legaldefinition unter Berücksichtigung des Legalitätsprinzips und der sog. 15%-Regel der NKV.

I. Fallkonstellation

Einem Nahrungsergänzungsmittelhersteller drohte die Untersagung des Inverkehrbringens seines Nahrungsergänzungsmittels. Das begutachtende Landesuntersuchungsamt (nachfolgend Amt) war der Meinung, es handele sich nicht um ein Nahrungsergänzungsmittel i. S. d. § 1 NemV bzw. Art. 2 der Richtlinie 2002/46/EG, weil bestimmte Mineralstoffe nicht in der Konzentration enthalten seien, die gemäß Anlage 1 NKV als signifikant gewertet werden können (sog. 15%-Regel). Konkret verhielt es sich so, dass das Produkt einige Mineralstoffe enthielt, die über 15% der in Anlage 1 NKV angegebenen Werte lagen; einige lagen darunter. Das Amt vertrat die Auffassung, der Nahrungsergänzungsmittelbegriff setze voraus, dass die Nährstoffe mit der angegebenen Tagesverzehrsempfehlung in ernährungsphysiologisch relevanten Mengen zugeführt werden. Dabei gälten bis zu einer gesetzlichen Regelung in Anlehnung an die Bestimmungen der NKV mindestens 15% der empfohlenen Tagesdosis eines Nährstoffs als signifikant. Da vorliegend die Mehrzahl der Zutaten die 15%-Marke unterschritten, läge kein Nahrungsergänzungsmittel vor, sodass der Vertrieb zu untersagen sei. Als Quellenbeleg nahm das Amt Bezug auf den Arbeitskreis Lebensmittelchemischer Sachverständiger der Länder und des BVL (ALS).

II. Nahrungsergänzungsmittelbegriff

Die Erwägungen des Amtes zur Definition von Nahrungsergänzungsmitteln waren juristisch nicht haltbar. Weder der europäische noch der deutsche Nahrungsergänzungsmittelbegriff sehen tatbestandlich Mindestmengen an Zutaten vor. Gemäß § 1 NemV sind Nahrungsergänzungsmittel legal definiert wie folgt:

„(1) Nahrungsergänzungsmittel im Sinne dieser Verordnung ist ein Lebensmittel, das

1. dazu bestimmt ist, die allgemeine Ernährung zu ergänzen,

2. ein Konzentrat von Nährstoffen oder sonstigen Stoffen mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung allein oder in Zusammensetzung darstellt und

3. in dosierter Form, insbesondere in Form von Kapseln, Pastillen, Tabletten, Pillen und anderen ähnlichen Darreichungsformen, Pulverbeuteln, Flüssigampullen, Flaschen mit Tropfeinsätzen und ähnlichen Darreichungsformen von Flüssigkeiten und Pulvern zur Aufnahme in abgemessenen kleinen Mengen, in den Verkehr gebracht wird.

(2) Nährstoffe im Sinne dieser Verordnung sind Vitamine und Mineralstoffe, einschließlich Spurenelemente.“

Eine signifikante Menge i. S. einer Mindestmenge der einzelnen Nährstoffe ist in dieser Regelung nicht vorgesehen. Vielmehr genügt es nach Absatz 1 Nummer 2, dass Nährstoffe oder sonstige Stoffe mit ernährungsphysiologischer Wirkung enthalten sind.

Bei ihrer Rechtsanwendung müssen sich staatliche Stellen an das geltende Recht halten – Legalitätsprinzip. Dieses untersagt jedwede Ergänzung oder anderweitige Interpretation von Vorschriften, die sich so im Gesetz nicht wiederfinden. Daher verbietet sich eine „indirekte Anwendung der NKV“ als Hilfsmittel zur Ausfüllung des Nahrungsergänzungsmittelbegriffs.

Wenn Ämter auf Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2002/46/EG hinweisen, wonach, bezogen auf die vom Hersteller empfohlene Tagesdosis, Mindestmengen festzusetzen sind, so handelt es sich bei dieser Vorschrift nicht um ein Definitionskriterium des Nahrungsergänzungsmittelbegriffs, sondern um eine Regelung des Richtliniengebers zur Durchführung eines Verfahrens gemäß Art. 5 Abs. 4, 13 Abs. 3 i. V. m. Art. 5a Absätze 1 bis 4 und Art. 7 des Beschlusses 1999/468/EG unter Beachtung von dessen Artikel 8 zur Festsetzung der Mindestmengen. Solange dieses Verfahren nicht abgeschlossen, solange die Richtlinie nicht geändert und solange sie nicht in nationales Recht (NemV) umgesetzt ist, entfalten Mindestmengen für den Nahrungsergänzungsmittelbegriff keinerlei Relevanz.

III. Rechtslage zu Mindest- und Höchstmengenvorgaben der Kommission (Stand 12.09.2011)

Das BMELV teilt mit:

„Die Europäische Kommission hat im Juni 2006 ein Diskussionspapier zu der Festlegung von Höchst- und Mindestmengen an Vitaminen und Mineralstoffen veröffentlicht. Die Stellungnahmen der Interessengruppen finden sich dazu im Internet. Bis zum Inkrafttreten der vorgesehenen gemeinschaftsrechtlichen Höchstmengenregelungen ist im Einzelfall zu prüfen, ob ein spezielles Produkt den geltenden lebensmittelrechtlichen Vorschriften entspricht.“

Die EFSA äußert ähnliches. Dies bestätigt, dass das nationale Recht in seiner derzeit geltenden Fassung, vorliegend § 1 NemV, unabhängig von dem laufenden Kommissionsverfahren anzuwenden ist. Da § 1 NemV aktuelle Fassung keine Mindestmengen festlegt und diese auch nicht, über die NKV oder Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2002/46/EG „hineingelesen“ werden dürfen, sind Mengenverhältnisse für den Nahrungsergänzungsmittelbegriff aktuell irrelevant. Der EuGH hat hierzu folgendes klargestellt:

„Im Übrigen bleiben […], solange die Kommission nicht die Höchstmengen an Vitaminen und Mineralstoffen, die bei der Herstellung von Nahrungsergänzungsmitteln verwendet werden dürfen, nach Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2002/ 46 festgesetzt hat, die Mitgliedstaaten für die Festsetzung dieser Mengen zuständig und müssen sich bei der Ausübung dieser Zuständigkeit u. a. von den in Art. 5 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie genannten Kriterien leiten lassen. Nach Art. 3 der Richtlinie 2002/ 46 dürfen Nahrungsergänzungsmittel in der Union nur dann in den Verkehr gebracht werden, wenn sie den Vorschriften dieser Richtlinie entsprechen. Nach Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2002/ 46 dürfen überdies die Mitgliedstaaten den Handel mit Nahrungsergänzungsmitteln nicht aus Gründen ihrer Zusammensetzung, Herstellungsmerkmale, Aufmachung oder Kennzeichnung untersagen oder beschränken, wenn die Nahrungsergänzungsmittel dieser Richtlinie und den etwaigen zu deren Durchführung erlassenen Unionsbestimmungen entsprechen. Die Mitgliedstaaten verfügen nur noch über begrenzte Möglichkeiten, das Inverkehrbringen solcher Nahrungsergänzungsmittel zu beschränken. Art. 12 der Richtlinie 2002/ 46 sieht vor, dass ein Mitgliedstaat dann, wenn er mit eingehender Begründung anhand neuer Informationen oder einer neuen Beurteilung der vorliegenden Informationen nach dem Erlass dieser Richtlinie oder eines zu ihrer Durchführung erlassenen Unionsrechtsakts feststellt, dass ein Nahrungsergänzungsmittel die menschliche Gesundheit gefährdet, obwohl es den genannten Bestimmungen entspricht, die Anwendung der einschlägigen Bestimmungen in seinem Gebiet vorläufig aussetzen oder einschränken kann. Folglich ist die Anwendung des Art. 12 der Richtlinie 2002/ 46 von der Durchführung dieser Richtlinie, insbesondere ihres Art. 5, abhängig, d. h. von der Festsetzung der in diesem Artikel genannten Höchstmengen durch die Kommission. Da die Kommission aber diese Höchstmengen noch nicht festgesetzt hat, ist Art. 12 der Richtlinie 2002/ 46 nicht anwendbar. Insoweit ist zu beachten, dass die in Art. 5 der Richtlinie 2002/ 46 genannten Höchstmengen auf der Grundlage der in dieser Bestimmung enthaltenen Kriterien festgesetzt werden müssen.“ (EuGH, Urteil vom 29. 4. 2010 – C-446/08)

IV. Fazit

Die amtliche Rechtsanwendung begegnet bisweilen schweren Bedenken. Allzu oft sind nicht einmal die grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Exekutive (hier: Legalitätsprinzip) geläufig oder gelangen jedenfalls nicht zur Anwendung. Die behördlichen Rechtsanwender sind gehalten, die Rechtsauffassungen ihrer „beratenden Ämter“ sehr kritisch zu prüfen, bevor belastende Verfügungen erlassen werden.

Stand: 12.09.2011, Dr. Gordon Grunert, LL.M. Eur., www.anwaltskanzlei-grunert.de