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Europarecht: Anforderungen an die Richtlinienumsetzung – inwieweit darf der nationale Gesetzgeber von den Vorgaben einer Richtlinie abweichen?

Die Mitgliedstaaten sind nach dem EG-Vertrag gehalten, EU-Richtlinien in das Recht des jeweiligen Staates zu transformieren bzw. ihr bestehendes Recht anzupassen. Oft stellt sich dabei die Frage, ob ein Mitgliedstaat berechtigt ist, über die Regelung der Richtlinie hinauszugehen, z. B. indem er ein weitergehendes Verbot kodifiziert, als dies die Richtlinie vorsieht. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, wie man die Regelungsdichte der zugrunde liegenden Richtlinie interpretiert: Regelt sie die Materie abschließend oder stellt die Richtlinie nur Mindestanforderungen, über welche der Staat hinausgehen darf? Die Rechtsmaterie hat erhebliche Bedeutung für die Beantwortung der Frage der Rechtmäßigkeit mitgliedstaatlicher Gesetze und deren Anwendung.

I.        Rechtlicher Rahmen

 1.             Primärrecht

Der Gemeinschaftsgesetzgeber ist bei der Wahl seiner Harmonisierungsmaßnahme grundsätzlich frei, d. h. es bleibt ihm überlassen, ob er sich z. B. für eine Verordnung oder eine Richtlinie entscheidet (vgl. Art. 249 EG). Aus dem Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 EG) folgt jedoch, dass unter sonst gleichen Gegebenheiten eine Richtlinie einer Verordnung vorzuziehen ist.[1] Denn der Gemeinschaftsgesetzgeber muss für jede Maßnahme eine möglichst einfache Form wählen, wobei er darauf achten muss, dass das Ziel der Maßnahme in zufriedenstellender Weise erreicht wird und die Maßnahme tatsächlich zur Anwendung gelangt. Dabei darf die Rechtsetzungstätigkeit der Gemeinschaft über das erforderliche Maß nicht hinausgehen (Art 5 Abs. 3 EG).

Aufschluss über die grundsätzlichen Anforderungen an die Regelungsdichte von Richtlinien, d. h. in der Intensität, mit der sich eine Richtlinie einer Rechtsmaterie annehmen muss, gibt in erster Linie der EG-Vertrag. Gemäß Art. 249 EG erlassen das Europäische Parlament und der Rat gemeinsam, der Rat und die Kommission zur Erfüllung ihrer Aufgaben und nach Maßgabe des EG-Vertrags Verordnungen, Richtlinien und andere Rechtsvorschriften. Während die Verordnung allgemeine Geltung hat, in allen ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt, ist die Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel (Art. 249 Abs. 3 EG). Daraus folgt, dass eine wortgenaue Umsetzung von Richtlinien nicht erforderlich ist. Vielmehr muss nur deren wesentlicher Regelungsgehalt, der zur Umsetzung des Richtlinienziels dient, in den Regelungen der Mitgliedstaaten wiederkehren. Der Regelungsgehalt ist zwar bei jeder Richtlinie unterschiedlich. Indessen verfolgt jede Richtlinie das Ziel, zur Harmonisierung einer bestimmten Rechtsmaterie beizutragen. Die Richtlinie ist eines der Mittel zur Umsetzung der in Kapitel 3 EG enthaltenen Regelungen zur Angleichung von Rechtsvorschriften (Art. 94 ff. EG). Die Richtlinien werden vom Rat erlassen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten.

Im Rahmen der Richtliniensetzung hat der Richtliniengeber die allgemeinen Grundsätze des Primärrechts zu berücksichtigen. Insbesondere ist von der Gemeinschaft ein System zu verfolgen, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt und – soweit dies für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlich ist – die Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften betreibt (Art. 3 Abs. 1 lit. g und h EG). Zudem sind die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet (Art. 4 Abs. 1 EG), welcher durch Mitwirkungspflichten der Mitgliedstaaten unterstrichen wird (Art. 10 EG), zu denen auch die korrekte Richtlinienumsetzung gehört.

Gemäß Art. 14 Abs. 1 EG trifft die Gemeinschaft alle erforderlichen Maßnahmen, um den Binnenmarkt schrittweise zu verwirklichen. Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags gewährleistet ist (Art. 14 Abs. 2 EG). In diesen Zusammenhang sind die Vorschriften zur Gewährleistung der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit besonders hervorzuheben (Art. 28, 30; 49 ff. EG). Eine unzutreffende Richtlinienumsetzung kann den Waren- bzw. Dienstleistungsverkehr insoweit behindern, als das Harmonisierungsziel des Richtliniengebers unterlaufen wird. Insoweit ist auf die Vorschriften des Art. 95 Abs. IV und V ff. EG hinzuweisen, die den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnen, ihre Ausnahmeregelungen zu legitimieren, indem sie sich mit der Kommission ins Benehmen setzen, soweit sie eine von der Richtlinie abweichende innerstaatliche Vorschrift bestehen lassen oder erlassen wollen.

Insgesamt legt das Primärrecht einen allgemeinen Rahmen fest, den Richtlinien in Bezug auf die Regelungsdichte erfüllen müssen. Die einzelnen Rechtsmaterien, die zu harmonisieren sind, sich zu mannigfaltig, um hier genauere Anforderungen festzulegen. Daher lässt sich die Frage nach dem Höchststandard nicht ohne genauere Analyse des speziellen Sekundärrechts beantworten.

2.       Sekundärrecht

Die Richtlinien fallen in ihrer Regelungsdichte sehr unterschiedlich aus. Während einige nur grobe Vorgaben liefern, die einer detaillierten Konkretisierung durch die transformierenden Staaten bedürfen, sehen andere Richtlinien bereits detailgenaue Regelungen vor, welche dem Mitgliedstaat wenig Spielraum lassen. Letztlich kann nur eine genaue Untersuchung der jeweiligen Richtlinie Aufschluss über deren Regelungsdichte geben und helfen die Frage zu beantworten, ob diese Richtlinie einen Höchststandard setzt, der es dem Mitgliedstaat verbietet, strengere Regelungen zu erlassen bzw. anzuwenden.

II.       Der Streitstand in der deutschen Rechtsprechung und Literatur anhand des Heilmittelwerberechts

In der Rechtsprechung und Literatur wird die Frage, inwieweit Richtlinien einen abschließenden Höchststandard setzen, kontrovers behandelt. Eine gute Beispielsmaterie bildet das Europäische Heilmittelwerberecht und dessen Umsetzung in Deutschland. Das Heilmittelwerbegesetz (HWG), welches die Richtlinie 92/28/EWG des Rates vom 31. März 1992 über die Werbung für Humanarzneimittel[2] umgesetzt hat, enthält verschiedene Regelungen, die strenger ausfallen, als diejenigen der Richtlinie. Während z. B. § 11 Abs. 1 Nr. 11 HWG bei der Öffentlichkeitswerbung Äußerungen Dritter, insbesondere mit Dank-, Anerkennungs- und Empfehlungsschreiben, generell verbietet, sieht Art. 90 lit. j der geänderten Richtlinie 2001/83/EG lediglich ein Werbeverbot vor für Elemente der Öffentlichkeitswerbung, sich in missbräuchlicher, abstoßender oder irreführender Weise auf Genesungsbescheinigungen beziehen.

Art. 90 der geänderten Richtlinie 2001/83/EG enthält eine detaillierte Regelung zur Öffentlichkeitswerbung für Arzneimittel. Artikel 90 der geänderten Richtlinie 2001/83/EG lautet:

Die Öffentlichkeitswerbung für ein Arzneimittel darf keine Elemente enthalten, die

a) eine ärztliche Untersuchung oder einen chirurgischen Eingriff als überflüssig erscheinen lassen, insbesondere dadurch, dass sie eine Diagnose anbieten oder eine Behandlung auf dem Korrespondenzwege empfehlen;

b) nahe legen, dass die Wirkung des Arzneimittels ohne Nebenwirkungen garantiert wird oder einer anderen Behandlung oder einem anderen Arzneimittel entspricht oder überlegen ist;

c) nahe legen, dass die normale gute Gesundheit des Patienten durch die Verwendung des Arzneimittels verbessert werden könnte;

d) nahe legen, dass die normale gute Gesundheit des Patienten im Falle der Nichtverwendung des Arzneimittels beeinträchtigt werden könnte; dieses Verbot gilt nicht für Impfkampagnen im Sinne von Artikel 88 Absatz 4;

e) ausschließlich oder hauptsächlich für Kinder gelten;

f) sich auf eine Empfehlung von Wissenschaftlern, von im Gesundheitswesen tätigen Personen oder von Personen beziehen, die weder Wissenschaftler noch im Gesundheitswesen tätige Personen sind, die aber aufgrund ihrer Bekanntheit zum Arzneimittelverbrauch anregen können;

g) das Arzneimittel einem Lebensmittel, einem kosmetischen Mittel oder anderen Gebrauchsgütern gleichsetzen;

h) nahe legen, die Sicherheit oder Wirksamkeit des Arzneimittels sei darauf zurückzuführen, dass es sich um ein Naturprodukt handle;

i) durch eine ausführliche Beschreibung oder Darstellung der Anamnese zu einer falschen Selbstdiagnose verleiten könnten;

j) sich in missbräuchlicher, abstoßender oder irreführender Weise auf Genesungsbescheinigungen beziehen;

k) in missbräuchlicher, abstoßender oder irreführender Weise bildliche Darstellungen der Veränderungen des menschlichen Körpers aufgrund von Krankheiten oder Schädigungen oder der Wirkung eines Arzneimittels im menschlichen Körper oder in Körperteilen verwenden.

Ein weiteres Beispiel divergierender innerstaatlicher Vorschriften bildet § 11 Abs. 1 Nr. 13 HWG, wonach Öffentlichkeitswerbung für Arzneimittel nicht mit Preisausschreibungen, Verlosungen oder anderen Verfahren, deren Ergebnis vom Zufall abhängig ist, stattfinden darf. Die insoweit einschlägige EG-Norm, Art. 87 Abs. 3 der Richtlinie 2001/83/EG (Art. 90 regelt diese Materie nicht), sieht dagegen nur folgendes vor:

Die Arzneimittelwerbung

– muss einen zweckmäßigen Einsatz des Arzneimittels fördern, indem sie seine Eigenschaften objektiv und ohne Übertreibung darstellt;

– darf nicht irreführend sein.

Teile der Rechtsprechung und Literatur vertreten, dass die Richtlinie 92/28/EWG (nunmehr RL 2001/83/EG) lediglich Mindestanforderungen an die Öffentlichkeitswerbung stellt.[3] Erwägungsgrund 2 der Richtlinie 2004/27/EG stelle klar, dass noch weitere Maßnahmen zur Beseitigung bestehender Hemmnisse für den freien Handel erforderlich seien. Dass die Gemeinschaftsgesetzgeber weitere Maßnahmen ergreifen wolle, zeige dass noch keine vollständige Harmonisierung dieses Bereichs erfolgt sei. Zwar enthalte die Richtlinie eine Tendenz zur Vollharmonisierung, was aber nicht bedeute, dass eine solche bereits vorliege. Dementsprechend formuliere die Richtlinie z. T. ausdrücklich nur Mindestanforderungen[4], ohne diese als Ausnahme kenntlich zu machen. Zudem ergebe sich aus Erwägungsgrund 42 der Richtlinie 2001/83/EG[5], dass die Richtlinie 84/450/EWG des Rates vom 10. September 1984 über irreführende und vergleichende Werbung neben der Richtlinie 2001/83/EG anwendbar bleibt. Insofern könne die Richtlinie 2001/83/EG keinen Höchststandard setzen, da Art. 7 der Richtlinie 84/450/EWG den Mitgliedstaaten weitergehende Maßnahmen erlaube.

Der Bundesgerichtshof, das Kammergericht und Teile der Literatur sind anderer Auffassung.[6] Danach liegt mit Art. 90 der Richtlinie 2001/83/EG eine abschließende Regelung vor, die einen Höchststandard setzt. Grundsätzlich setze die Richtlinie einen abschließenden Höchststandard, soweit nicht einzelne Vorschriften ausdrücklich nur Mindestanforderungen beinhalten.[7] Dafür sprächen Sinn und Zweck der Richtlinie, welche zudem ausdrücklich auf den EG-Vertrag gestützt sei und somit eine Maßnahme zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften sei, die die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand habe. Das Binnenmarktziel würde konterkariert, ginge man nur von Mindestanforderungen aus. Dies gelte umso mehr, als die Richtlinie auch das Recht der Verbraucher schütze. das Spannungsverhältnis zwischen einem reibungsfreien Absatz und dem Verbraucherschutz habe der Richtliniengeber bei der Rechtssetzung berücksichtigt und verbindlich austariert.[8] Des Weiteren führt der BGH die Änderung der Richtlinie 2001/83/EG ins Feld: die Änderungsrichtlinie 2004/27/EG führe in Erwägungsgrund 2 S. 2 aus, die Erfahrung habe gezeigt, dass weitere Maßnahmen erforderlich seien, um die noch bestehenden Hemmnisse für den freien Handel zu beseitigen. Daher müssten, so der Erwägungsgrund 3, die nationalen Rechtsvorschriften einander angenähert werden, damit das Funktionieren des Binnenmarktes verbessert und gleichzeitig ein hohes Niveau des menschlichen Gesundheitsschutzes erreicht werden könne. Daraus folgert der BGH, dass das für einen Höchststandard, also eine abschließende Regelung, sprechende Integrationsinteresse nicht nur gleichberechtigt neben dem Gesundheitsinteresse stehe, sondern sogar die Änderung der Richtlinie 2001/83/EG veranlasse.[9] Schließlich spreche die Entscheidung des EuGH in Sachen Doc Morris[10] für den abschließenden Charakter der Richtlinie 2001/83/EG: Wenn Art. 88 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG nicht dahin ausgelegt werden könne, dass er die Werbung für den Versandhandel mit Arzneimitteln erfasst und Art. 88 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83/EG einem Verbot nach § 8 Abs. 1 HWG entgegenstehe, soweit er sich auf nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel bezieht, dann müsse zumindest Art. 88 einen Höchststandard setzen.[11]

III.      Die Entscheidung des EUGH

Der Streit ist nach der Entscheidung des EuGH nicht generell, zumindest in Bezug auf das Heilmittelwerberecht entschieden. Der BGH hat die Frage, ob die Vorschriften der Richtlinie 2001/83/EG, welche die Bezugnahme auf Äußerungen fachunkundiger Dritter und die Werbung mit Auslosungen betreffen, nicht nur einen Mindest-, sondern einen abschließenden Höchststandard für die Verbote der Öffentlichkeitswerbung für Arzneimittel setzen, dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens vorgelegt. Mit Urteil vom 08.11.2007 hat der EuGH entschieden, dass die Richtlinie insoweit einen Höchststandard setzt.[12] Daher ist es den Mitgliedstaaten untersagt, dieses System mit Maßnahmen, die strenger sind als dasjenige der Richtlinie, zu unterlaufen. Die deutschen Bezugsnormen des Heilmittelwerberechts sind somit EU-rechtswidrig, soweit sie über die Richtlinie hinausgehen.

Der EuGH ist mit seiner Entscheidung der Auffassung des Generalanwalts Dámaso Ruiz-Jarabo Colomer im Wesentlichen gefolgt. Er stellt zunächst darauf ab, dass verschiedene Vorschriften der Richtlinie 2001/83/EG diejenigen Fälle, in denen der nationale Gesetzgeber befugt ist, von den Regelungen der Richtlinie abzuweichen, ausdrücklich geregelt sind. Art. 88 Abs. 3 der Richtlinie 2001/83/EG berechtige die Mitgliedstaaten, in ihrem Gebiet die Öffentlichkeitswerbung für erstattungsfähige Arzneimittel zu untersagen. Art. 89 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2001/83/EG führe nicht abschließend auf, welche Angaben die Öffentlichkeitswerbung zwingend enthalten muss. Insoweit lasse die Vorschrift den Mitgliedstaaten einen Spielraum. Des Weiteren erlaube Art. 89 Abs. 2 bestimmte Formen der Erinnerungswerbung. Weiterhin verweist der EuGH auf Befugnisse zur Abweichung in Art. 91, 96 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG. Die genannten Sondervorschriften der Richtlinie 2001/83/EG erlauben nach Auffassung des EuGH den Schluss, dass mit dieser Richtlinie eine Vollharmonisierung des Bereichs der Arzneimittelwerbung erfolgt sei, wobei die Fälle, in denen die Mitgliedstaaten befugt sind, Bestimmungen zu erlassen, die von der in der Richtlinie getroffenen Regelung abweichen, ausdrücklich aufgeführt sind.

Der EuGH tritt der Auffassung entgegen, aus Erwägungsgrund 2 der Richtlinie 2004/27/EG folge ein Mindeststandard, weil der Gemeinschaftsgesetzgeber weitere Maßnahmen für erforderlich halte, indem er klarstellt, dass es dem Gemeinschaftsgesetzgeber unbenommen bleibt, die Vorschriften der Richtlinie 2001/83/EG erforderlichenfalls anzupassen oder neue Vorschriften einzuführen.

Des Weiteren könne dem Vorbringen nicht gefolgt werden, ein Mindeststandard ergebe sich aus der gemäß Erwägungsgrund 42 der Richtlinie 2001/83/EG weiterhin gegebenen Anwendbarkeit der Richtlinie 84/450/EWG. Die Tatsache, dass die Richtlinie 84/450/EWG nur eine Mindestharmonisierung vornehme, sei für die Frage, wie weit die Richtlinie 2001/83/EG harmonisiert, unerheblich, da die Richtlinie 2001/83/EG eine Sonderregelung gegenüber der anderen Richtlinie darstelle.

Schließlich folge aus dem Wortlaut, der Systematik und dem Zweck der Bestimmungen der Richtlinie 2001/83/EG über die Arzneimittelwerbung, dass mit dieser Richtlinie die substanziellen Anforderungen an die Arzneimittelwerbung festgelegt werden sollten.

IV.     Stellungnahme / Zusammenfassung

Dem EuGH ist uneingeschränkt zuzustimmen. Die Regelungsdichte des Europäischen Heilmittelwerberechts – kodifiziert in der geänderten Richtlinie 2001/83/EG – ist ausreichend, um die Grundsätze der Heilmittelwerbung festzulegen. Die Richtlinie legt die Anforderungen an die Heilmittelwerbung in ihren Einzelheiten fest. Eine überschießende Umsetzung durch den Gesetzgeber des jeweiligen Mitgliedstaats verbietet sich daher. Zudem ist folgendes zu berücksichtigen:

Bereits aus dem Primärrecht folgt der Grundsatz, dass eine Richtlinie in ihrem wesentlichen Regelungsgehalt für die Mitgliedstaaten verbindlich ist. Wäre dies anders, verfehlte man in der Tat den Sinn und Zweck der Richtliniensetzung, nämlich die Harmonisierung des Europäischen Rechts. Zwar ist auch der Spielraum zu berücksichtigen, der den Adressaten der Richtlinie im Gegensatz zur Verordnung, die in all ihren Teilen verbindlich ist, eingeräumt wird. Da Richtlinien jedoch kraft Primärrechts in erster Linie ihren Harmonisierungszweck erfüllen müssen, spricht viel für die Auffassung, dass diese grundsätzlich einen Höchststandard festlegen. Eine Auseinandersetzung des EuGH mit diesen primärrechtlichen Erwägungen wäre wünschenswert gewesen.[13] Dem Ziel der Harmonisierung des Rechts sollte gegenüber dem Umsetzungsspielraum des nationalen Gesetzgebers grundsätzlich der Vorrang eingeräumt werden. Dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber sollte es also grundsätzlich verwehrt bleiben, überschießende Regelungen zu erlassen, die eine Abweichung zu Lasten der Harmonisierung bewirken würden, es sei denn, die Richtlinie legt ausdrücklich einen Mindeststandard für die jeweilige Regelungsmaterie fest.

Stand: 25.02.2008, Dr. Gordon Grunert, LL.M. Eur., www.anwaltskanzlei-grunert.de


[1] Vgl. 1. Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, Amtsblatt Nr. C 340 vom 10. November 1997.

[2] Die Heilmittelwerberichtlinie (RL 92/28/EWG) ist mittlerweile in der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel, geändert durch die Richtlinie 2004/27/EG, aufgegangen (vgl. Erwägungsgrund 1 RL 2001/83/EG).

[3] OLG Frankfurt a. M. GRUR-RR 2004, 273; GRUR Int. 2002, 931; OLG Hamburg, GRUR-RR 2002, 363/364; Bülow/Ring, HWG, 2. Aufl. (2001), Einführung Rn. 5a – Auffassungen z. T. noch zur Richtlinie 92/28/EWG, jedoch auf das neue Recht übertragbar.

[4] Z. B. Art. 89 Abs. 1 lit. b RL 2001/83/EG: Mindestangaben bei der Werbung: Name des Arzneimittels sowie die gebräuchliche Bezeichnung, wenn das Arzneimittel nur einen Wirkstoff enthält; die für eine sinnvolle Verwendung des Arzneimittels unerlässlichen Informationen; eine ausdrückliche und gut erkennbare Aufforderung je nach Fall, die Hinweise auf der Packungsbeilage oder auf der äußeren Verpackung aufmerksam zu lesen.

[5] Vgl. Erwägungsgrund 1 der Richtlinie 92/28/EWG.

[6] BGH, Beschl. v. 21. Juli 2005 – I ZR 94/02; KG GRUR 1995, 684/688; Doepner, HWG, 2. Aufl. 2000, Einl. Rn. 24 ff.; Gröning, HWG, Bd. 2, Einl. Rn. 21 ff. – Auffassungen z. T. noch zur Richtlinie 92/28/EWG, jedoch auf das neue Recht übertragbar.

[7] A. a. O., zur Richtlinie 92/28/EWG.

[8] A. a. O.; vgl. im Einzelnen zu den Regelungen des Primärrechts: oben I. 1.

[9] BGH, Beschl. v. 21. Juli 2005 – I ZR 94/02.

[10] EuGH, Urt. v. 11.12.2003 – C-322/01, GRUR 2004, 174.

[11] Fn. 8, a. a. O.

[12] EuGH, Urt. v. 08.11.2007 – C-374/05.

[13] Der EuGH hat die Frage, ob Richtlinien generell einen Höchststandard festsetzen, nicht beantworten müssen, da er sich nur auf den vom BGH im Vorlageverfahren konkret vorgelegten Fall beschränken durfte.